- Rokoko: Architektur und Kunsthandwerk
- Rokoko: Architektur und KunsthandwerkAm Anfang des 18. Jahrhunderts war Frankreich in künstlerischen Fragen unbestritten das Vorbild Europas. Hier zeigte sich - zuerst in der Innenarchitektur, der Raumdekoration und im Kunsthandwerk - ein grundlegender Wandel der Wohnkultur und der ästhetischen Ausgestaltung des Alltags: Die schweren, prunkvollen Formen des höfischen Barocks wurden durch eine leichte, anmutige Ausstattungskunst abgelöst. Gefragt waren jetzt nicht mehr zeremonielle Säle mit antikisierendem Dekor und farbigen Marmorverkleidungen, sondern elegante, wohnliche Räume mit hölzernen Wandvertäfelungen, gehalten in Weiß oder lichten Farben, mit feinteiligem, bisweilen vergoldetem Schnitzwerk und zartem Deckenstuck.Ihre Wände scheinen durch gekurvte Grundrisse in Schwingung versetzt, die Räume durch Spiegel erweitert, alle Gestaltungselemente durch reiches, bewegtes und fein gesponnenes Ornament miteinander verschliffen zu sein. Die Grenzen zwischen den Künsten wurden dabei überspielt. Zierliche Möbel, graziös gemusterte Textilien sowie der schimmernde Glanz vergoldeter Bronzen, kristallener Leuchter und kostbaren Porzellans fügten sich mit höchstem ästhetischem Raffinement ein. In Malerei und Skulptur traten neben die belehrenden Bildprogramme heiter-galante Themen, etwa die Liebesabenteuer der antiken Götter und Helden oder unbeschwerte ländliche Idyllen. Kunstformen, die zuvor nur am Rande der klassischen Norm geduldet worden waren, verselbstständigten sich - etwa die Darstellung exotischer Welten oder das kapriziöse Spiel mit eigentlich unvereinbaren Motiven, Gattungen oder Stilelementen.Schon die letzten Raumausstattungen der Zeit Ludwigs XIV. kündigten diesen Wandel an. Den entscheidenden Einschnitt aber brachte die »Régence«, die Regentschaft Herzog Philipps II. von Orléans zwischen 1715, dem Todesjahr des »Sonnenkönigs«, und 1723, dem Beginn der mündigen Herrschaft Ludwigs XV.: Nach diesem Monarchen nennt man den neuen Kunstgeschmack, der bis zur Jahrhundertmitte seinen reichsten Glanz entfaltete und als Ausdruck des hochkultivierten Lebensgenusses der europäischen Aristokratie in der Spätzeit des Ancien Régime gilt, auch »Louis-quinze«.Außerhalb Frankreichs bezeichnet man diesen auf den Barock folgenden Stil als Rokoko. Sein Name ist abgeleitet von der Rocaille, einem schnörkelhaften, muschelähnlichen Ornament, das letztlich auf die Grotesken zurückgeht, die fantastievollen Wanddekorationen, mit denen die Renaissance die wieder entdeckten antik-römischen Innenräume nachempfunden hatte. Von ihrem unmittelbaren Vorläufer, dem stilisierten Muschel- und Grottenwerk der klassischen Ornamentik, unterscheidet sich die Rocaille durch Asymmetrie und durch die Auflösung fester Formen. Rocaillen zeigen wellenartig geriefelte Flächen, bewegte Ränder und Einrollungen. Da sie überaus flexibel in C- oder S-förmigen Schwüngen aneinander gesetzt werden können, kann man mit ihnen unterschiedliche Kunstgattungen und Gegenstände leicht miteinander verknüpfen.Im Profanbau hielten die großen französischen Architekten wie Robert de Cotte, Germain Boffrand oder Ange-Jacques Gabriel weitgehend an der klassischen Gestaltung des Außenbaus fest, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelt worden war; verfeinert wurden hingegen Programm und Ausstattung der Innenräume. Zu den vorrangigen Bauaufgaben zählte das Hôtel. Das Portal eines solchen adeligen Stadtpalais öffnet sich von der Straße auf einen Ehrenhof, der von den Wirtschaftsflügeln flankiert wird. Den Hof beherrscht das quer gelagerte Hauptgebäude, der »Corps de logis« mit den Empfangsräumen und den Appartements der Besitzer. An seiner Rückseite schließt sich ein Garten an. Neu waren die ausgefeilte Nutzung der oft unregelmäßigen Grundstücke, der Variationsreichtum der Grundrisse der Räume, die Unterscheidung von Bereichen der Repräsentation und des Privaten sowie die geschickte Einpassung von Nebengelassen und Versorgungsgängen für die Dienerschaft.Da die Mehrzahl der europäischen Fürsten dem höfischen Absolutismus von Versailles nacheiferte, blieb das spätbarocke Residenzschloss auch weiterhin eine wichtige Gestaltungsaufgabe. Bevorzugter Bautyp des Rokokos war jedoch die »Maison de plaisance«, das Lustschlösschen auf dem Lande, das im späten 17. Jahrhundert für den Rückzug des Herrschers vom Hofleben oder als Wohnsitz des Geldadels in der Umgebung von Paris entstanden war. In den Traktaten von Jacques-François Blondel (1737/38) und Charles Étienne Briseux (1743) wurde die sinnvolle Anordnung der Raumfolgen zu beiden Seiten von zentralem Vestibül und Salon exemplarisch beschrieben. Die Trennung öffentlicher und privater Sphären zeigte sich, als in Versailles 1722 zusätzlich zu den Repräsentationsräumen aus der Zeit des »Sonnenkönigs« eine neue, komfortable Königswohnung eingerichtet wurde. Schließlich veranlasste Ludwig XV. sogar den Einbau eines intimen, in der Dachzone des Schlosses verborgenen Privatappartements, in dem er, nahe seiner jeweiligen Mätresse, einige Stunden des Tages wie ein bürgerlicher Privatmann verbrachte.Einer der größten Bewunderer der französischen Kultur war Friedrich II., der Große. Obwohl der König als Machtdemonstration auch große Schlossanlagen bauen ließ, blieb seine Lieblingsschöpfung doch das Weinbergschlösschen Sanssouci, von 1745 an durch Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff nach Friedrichs Vorgaben errichtet. Der Herrscher verzichtete hier ganz auf höfische Repräsentation und wohnte in einer exklusiven Mischung aus Maison de plaisance und Orangerie. Noch im Alter hielt Friedrich bei Innendekorationen am längst überholten Rokoko-Geschmack aus der Zeit seiner Jugend fest.Am Pariser Rokoko geschult war der bayerische Hofbaumeister François de Cuvilliés, ein gebürtiger Wallone, der im Alter von 13 Jahren als Hofzwerg in den Dienst des Kurfürsten getreten war. Cuvilliés' Räume in Schloss Augustusburg bei Brühl, in Schloss Nymphenburg nahe München und in der Münchener Residenz befreiten die Rocaille von der Bindung an Wand- oder Deckenfelder und lassen sie in freiem Schwung über Innenarchitektur und Mobiliar ausgreifen. Bayerische und friderizianische Rokokoformen vereinigen sich in Schloss Wilhelmsthal bei Kassel. Dass in Deutschland die Rokoko-Ornamentik auch die Fassade eines Gebäudes erfassen konnte, zeigt etwa das Haus von Cosmas Damian und Egid Quirin Asam in München.In England fand sich die Rocaille zwar als Ornament, in den Bauformen jedoch dominierte der gegen den französischen Absolutismus gerichtete Palladianismus. Bereits um die Jahrhundertmitte setzte hier die frühklassizistische Aneignung antiker Vorbilder ein. Schweden hingegen stand im engen Kulturaustausch mit Frankreich und importierte mit französischen oder in Frankreich geschulten Künstlern den neuen Stil. Anders als im übrigen Europa dominierte in Russland unter Zarin Elisabeth I. der weiträumige Palast mit üppiger Prachtentfaltung für das große höfische Zeremoniell. Bartolomeo Francesco Rastrelli baute in diesem Sinne ab 1747 Schloss Peterhof um, dem das Vierte Winterpalais in Sankt Petersburg und die Vergrößerung des Katharinenschlosses in Zarskoje Selo folgten. In der Sakralarchitektur gelang es Rastrelli, den traditionellen russischen Fünfkuppelbau mit den Formen des europäischen Spätbarocks neu zu definieren. Kunstlandschaftlich eigenständige Ausprägungen zeigen sich auch im Farbenspiel und im dekorativen Überschwang des venezianischen und des neapolitanischen Rokokos oder in der üppigen, noch dem Churriguerrismus folgenden Ornamentik der iberischen Kunst. Im alpenländischen Raum gingen die Formen des Rokokos als Motivkonstante in die regionale Volkskunst ein.Das Rokoko entfaltete sich überwiegend als Dekorationsstil profaner Bauten. Eine Ausnahme bildete die Sakralarchitektur im Süden des Heiligen Römischen Reichs, darunter die zahlreichen Kloster- und Wallfahrtskirchen in Franken, Oberschwaben, Bayern und Österreich. Ein Hauptthema ist hier die Verschmelzung der gegensätzlichen Raumerfahrungen von Zentral- und Längsbau, wie sie in den Entwürfen Johann Michael Fischers und Balthasar Neumanns durch die Verschleifung der Wölbeeinheiten und die ambivalente Zuordnung der Stützensysteme sichtbar wird. In den am weitesten fortgeschrittenen Lösungen wurde schließlich die Rocaille selbst, die bislang immer als Ornament erkennbar blieb, zum übergreifenden Gestaltungsprinzip. Vorgeblich irreale Raumschöpfungen widersprechen nun aller strukturellen Logik, die Gesetze von Tragen und Lasten scheinen zugunsten völliger Schwerelosigkeit aufgehoben zu sein.Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das Rokoko durch die klassizistische Kunsttheorie und -praxis als künstlerische Verfallserscheinung bekämpft. Die französische Kritik verwies auf die gestalterische Willkür nicht rational überprüfbarer Formen. Die Regelkunst der Klassik - vor allem die zunehmend für den Kunstbetrieb erschlossenen Werke der römischen und griechischen Antike - galt nun wieder als vorbildlich. Besonders in Nordeuropa und im deutschsprachigen Raum wurde der Klassizismus programmatisch als ebenso natürliche wie vernünftige Kunst dem angeblich in Form und Inhalt launenhaften und dekadenten Rokoko entgegengestellt, was nicht zuletzt auch eine Kritik des Bürgertums an der Kultur des Adels war.Prof. Dr. Michael HesseKeller, Harald: Die Kunst des 18. Jahrhunderts. Sonderausgabe Berlin 1990.Summerson, John: Die Architektur des 18. Jahrhunderts. Aus dem Englischen. Stuttgart 1987.
Universal-Lexikon. 2012.